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Pferd und Reiter im Gleichgewicht


Der natürlich träge Körper

Ein Körper im materiellen Sinne ist von sich aus ziemlich träge, faul und strebt grundsätzlich nach Stillstand. Verschiedene, das Überleben sichernde Aktionen und Reaktionen sind die hauptsächliche motivierenden Faktoren für die Bewegung belebter Körper.

 

Auch ein Pferd  sieht sich im Hauptsächlichen durch verschiedene natürliche Überlebensimpulse dazu veranlasst sich zu bewegen. Sei es beispielsweise um Nahrung aufzunehmen, um zu flüchten, um im Schutz der Herde zu bleiben oder um seinen Körper durch Bewegung zum Beispiel im Spiel zu stärken. 

Einen Reiter zu tragen und sich unter und mit ihm ausbalanciert zu bewegen, gehört in jedem Fall nicht zu den sinnangereicherten natürlichen Überlebensimpulsen die ein Pferd dazu animieren, Positionsveränderungen vornehmen zu müssen. Außer die Flucht ergreifen zu wollen gibt es, pragmatisch betrachtet, keine weitere Veranlassung sich mit, neben oder unter einem Reiter zu bewegen.

 

Wollen wir also reiten oder uns anderwertig mit dem Pferd beschäftigen, müssen wir dem Pferd eine Bewegungsveranlassung geben. Stark vereinfacht dargestellt setzen wir hierfür seinen  Fluchtimpuls außer Kraft, machen uns jedoch die hohe aus seiner Fluchtbereitschaft entspringende Reaktivität und den Herdentrieb zunutze aufgrund dessen es auf unsere körperlichen Impulse reagiert. 


 

Körper sind von Natur aus träge und streben energiesparend nach Stillstand




Gleichgewicht und Bewegungssequenz

In der Praxis muss auch ein sehr guter Reiter ununterbrochen eine ganze Menge Dinge tun um seinem Pferd zu erklären was er von ihm erwartet. Je geschickter, unmissverständlicher und rascher der Reiter die Abfolge seiner Anfragen an das Pferd stellt, je reaktiver  (im Definitionsinne der Psychophysiologie) das Pferd die Anfragen umsetzt und je passender der Reiter  die Zeitspanne wählt, die das Pferd benötigt um die abgefragte Bewegung durch seinen Körper zu leiten und zu vollenden bevor er seine nächste Anfrage stellt, umso feiner und flüssiger ist die Verständigung zwischen Pferd und Reiter und umso weniger nimmt der Zuschauer die  impulsgebenden Wechselwirkungen von außen wahr: umso mehr stehen Pferd und Reiter zueinander im Gleichgewicht.

Vorstellung und Führungsimpuls

Um ein Pferd dazu zu anzuregen, Weg zurückzulegen und/oder eine bestimmte Lektion auszuführen, also Bewegung zu erzeugen, muss der Reiter zuerst ein Bild des gewünschten Ergebnisses in Gestalt einer klaren Vorstellung haben. 

 

Um dieses Ergebnis zu erreichen, startet er danach eine Aktion in Form einer zweckdienlichen Hilfengebung mittels kaum wahrnehmbarem,  oder deutlicherem Kraftaufwand. Diese in der Reiterei nach der bildlichen Vorstellung erfolgende körperliche Aktion nennen wir Führungsimpuls

Die Sequenz

Nachdem der Führungsimpuls - die Aktion - vom Reiter gegeben wurde, startet eine Reaktion seitens des Pferdes in Form einer Welle von Interaktionen aller ineinander wirkenden physiologischen Elemente wie Muskelanspannung, Blutzirkulation und Weiteres, die in Energiefluss und Kraftübertragung, also körperliche Bewegung umgesetzt werden und zum Schluss in einem Ergebnis in Form der abschließenden Bewegungsausführung münden. Diese Abfolge (Aktion, Reaktion, Ausführung, Ergebnis) in einem Schritt nennen wir Sequenz.

Sequenz und Zeit

Aktion (Führungsimpuls), Reaktion, Ausführung und Ergebnis finden in der Reiterei immer in genau dieser Reihenfolge in unterschiedlichen Zeitspannen nacheinander und niemals gleichzeitig statt.

 

Die Bewegungen von Pferd und Reiter sind also eine Aneinanderreihung von Sequenzen in Wechselwirkung, die eine bestimmte Zeit in Anspruch nehmen. Je harmonischer die Sequenzen umso größer das Gleichgewicht.

 

Um diesen Bewegungsablauf immer harmonischer zu gestalten, optimieren wir in Korrektur und Training ergebnisorientiert die für eine Sequenz benötigte, individuelle Zeitspanne. Für ein Ergebnis kann eine kürzere Zeitspanne notwendig sein, für ein Anderes eine längere. 




Ungleichgewicht im Gleichgewicht

 

Gleichgewicht im allgemein gängigen, stark "heruntergebrochenen"  technischen Verständnis finden wir zum Beispiel bei einer Wippe oder bei einer Waage. Wenn Wippe oder Waage auf beiden Seiten so gewichtet sind, dass sie schwebend auf gleicher Höhe stillstehen, spricht man davon, dass sie ausbalanciert oder im Gleichgewicht sind. Nimmt man Einfluss auf ein stillstehendes, sich im Gleichgewicht befindliches System, stupst man zum Beispiel die Waage an, stört man diesen Gleichgewichtszustand und das System setzt sich in Bewegung, bis es wieder von allein zum Stillstand kommt.

Die meisten Pferde würden sich - von ihren natürlichen Bewegungsimpulsen mal abgesehen - mit oder unter uns nicht großartig bewegen wenn wir ihnen keine Bewegungsimpulse beziehungsweise Bewegungsanreize gäben. Und diese geben wir ihnen ununterbrochen. Allein schon der Umstand, dass ein Mensch auf dem Pferderücken sitzt, auch wenn er ganz still sitzt, veranlasst das Pferd dazu sich zu bewegen.  Die Last auf  dem Pferderücken  verändert  die Lage des Pferdeschwerpunktes empfindlich so dass es diesen rasch ausgleichen muss. Untrainierte Pferde reagieren darauf noch wesentlich sensibler 

als trainierte Pferde. Wir holen unser Pferd also ununterbrochen aus seinem persönlichen Gleichgewichtszustand heraus und fordern es damit auf, sich so lange neu einzustellen, bis ein neuer Gesamtmassenmittelpunkt und damit ein neuer Gleichgewichtszustand entweder in Bewegung oder im Stillstand hergestellt wurde. Alsdann stören wir dieses Gleichgewicht wieder um wiederum einen neuen Gesamtmassenmittelpunkt einzurichten. Je geübter Pferd und Reiter, umso geschickter können sie sich  - jeder für sich und auch gegenseitig - auf die Schwerpunktveränderungen ausrichten und aufeinander abstimmen.


 

Reiten ist im Grunde genommen das durch aktives Einbringen von Führungsimpulsen ständige Stören eines Gleichgewichtes und aus diesem Ungleichgewicht darauf folgende Wiederherstellen eines neuen Gleichgewichtes um dieses wieder zu stören. Durch Schwerpunktverlagerungen und Hilfengebung optimieren wir die Aneinanderreihung von Bewegungssequenzen bis sich am Ende der Ausbildung ein gesundes, stabiles, harmonisches Gleichgewicht eingestellt hat. 



Harmonie und Gleichgewicht

 

Die gängige Vorstellung von harmonischem Reiten hat neben den rein reittechnischen Ausführungsaspekten oft  mehr oder weniger romantische, idealistische, manchmal auch spirituelle Elemente und wird in der Regel wie folgt definiert: 

 

 

Der Reiter ist Eins mit der Bewegung des Pferdes, sitzt im völligen Gleichgewicht ohne Kraftaufwand in der Bewegung des Pferdes und stört diese nicht.“


Genau genommen entsprächen dieser Beschreibung in der Praxis in Pferd und Reiter vollkommen, also 100%-ig parallele, und damit absolut zeitgleich erfolgende ebenmäßige körperliche und mentale Wechselwirkungen zwischen beiden Individuen in Bewegung mit einem gleichen jeweils selbstbestimmt gefassten und damit miteinander übereinstimmenden Ziel. (Kleine Anmerkung: Ich persönlich zweifele auch nach 45  Jahren  immer noch stark daran, dass ein Pferd  mit einem von uns ausgeformten Ziel selbstbestimmt übereinzustimmen vermag. Ganz im Gegensatz dazu zweifele ich allerdings überhaupt nicht daran, dass ein Pferd  aufgrund seiner natürlichen Veranlagung einem von uns ausgeformten Ziel zu folgen vermag, sofern das Ziel in seinen Möglichkeiten liegt.)  

 

Es liegt mir also völlig fern, der Existenz dieser ganz individuellen, mehr oder weniger idealistischen, beschriebenen harmonischen Gleichgewichtserfahrung  abzusprechen. Wir alle erleben sie. Bittet man Pferdebesitzer jedoch, diesen Erlebensmoment verständlich erklärend in Worte auszuformulieren  gelingt dies in den seltensten Fällen. Für den hauptsächlich sehr talentierten, intuitiv  geprägten und stark gefühlsveranlagten Reiter, der einfach alles richtig macht ohne eine Erklärung dafür zu benötigen, ist es in der Regel auch nicht wichtig die technischen Details  seines Wirkens zu kennen. Für den bodenständigeren, nicht weniger talentierten Reiter jedoch, der gerne verstehen möchte was und warum etwas passiert, sind  Erklären, Prüfen und Verstehen sehr wichtige Bindeglieder zu in der Praxis gemachten Erfahrungen mit denen zusammen er letztendlich zu vollumfänglichem Erkenntnisgewinn  und höchster Affinität gelangt. 

Der mentale  harmonische

Gleichgewichtszustand

Meine Erfahrung zweifelt absolut nicht daran, dass  in einem ganz individuellen, persönlichen Rahmen ausgeprägte mentale Wechselwirkungen zwischen Pferd und Mensch möglich sind. Die freudig blubbernde Begrüßung, das gegenseitige Fellkraulen :-), die tiefe Entspannung, dem zufriedenen Pferd beim Heu fressen zuzusehen.. Stark zweifele ich jedoch daran, dass  zwischen einem Pferd und einem Menschen insbesondere beim Reiten ein Zustand eines vollkommenen gegenseitigen einverständigen mentalen harmonischen Gleichgewichtszustandes  herstellbar ist, so wie wir ihn mehr oder weniger ausgeprägt von Mensch zu Mensch kennen.  Der häufig geäußerte und erlebte mentale harmonische Gleichgewichtszustand der beim Reiten empfunden wird, ist meiner Ansicht nach hauptsächlich ein Produkt unserer eigenen Vorstellung und nicht ein Ergebnis  welches aus der übereinstimmenden Abstimmung der Wünsche des Pferdes mit unseren Wünschen erfolgt, was meiner Ansicht nach absolute Voraussetzung  für einen  reellen harmonischen mentalen Gleichgewichtszustand zwischen zwei Individuen ist.

 

Tatsächlich empfinden wird ein mentales Gleichgewicht in der Reiterei im Hauptsächlichen dann, wenn  wir - genau so wie unser Pferd - wenig, beziehungsweise gar nicht nachdenken, sich unser reiterliches Ergebnis richtig anfühlt und wir damit zufrieden sind wenn unser Pferd unseren Impulsen folgt, was insgesamt einem meditativen  erfüllten Zustand  durchaus ähnlich sein kann.

Der körperliche  harmonische Gleichgewichtszustand

Je näher und lotgerechter sich die Schwerpunkte von Reiter und Pferd in jeder Bewegung sind, je besser das Pferd Last in der Hinterhand aufnehmen, den Reiter günstig setzen und ihn mit in seine getragenen Bewegungen hineinnehmen kann und je intensiver wir uns in unseren und den Pferdekörper hineinkonzentrieren, umso stärker ist unsere gefühlte Gleichgewichts- und Harmonieempfindung, die jedoch auch einem sehr gut trainierten Pferd in Wahrheit körperliche und reaktive Hochleistungen abverlangt.

 

Im körperli-chen Gleich-gewicht mit dem Pferd  zu sein meint in erster Linie ganz genau den Moment des, wie im Kapitel „Der Reitersitz“, beschriebenen gleichsamen möglichst zeitgleichen Energieflusses  durch die gleichen Körperbereiche von Pferd und Reiter bis zur nächsten reiterlichen Impulssetzung.


Je stärker das Bewegungsergebnis unseren Vorstellungen entspricht und je ursächlicher wir dieses Ergebnis hervorrufen können, umso harmonischer und erfüllender empfinden wir den  Gesamtzustand den wir als Gleichgewicht bezeichnen. Im Idealfall  erfolgen die körperlichen Abstimmungen zwischen Pferd und Reiter  intuitiv richtig, also ohne dass wir durch das darüber Nachdenken Zeit verlieren.

 

 

Reiten macht frei   ;-)